Kommentar |
Ibn Khaldun (1332-1406) gehört zu den wenigen großen und berühmten Universalgelehrten aus dem islamischen Erfahrungsraum, deren Werke seit geraumer Zeit auch in Europa und in den USA kritische Beachtung finden. Ibn Khaldun durchlebte eine tiefe Ordnungskrise der arabisch-islamischen Welt, die durch gewaltsam ausgetragene Machtrivalitäten zwischen Stämmen bzw. Dynastien und durch die Pest verursacht war. Zu deren Bewältigung wollte Ibn Khaldun nicht nur als Politiker und Richter in hohen Ämtern, sondern auch als Historiker und politischer Denker beitragen. Die Reflexionsarbeit ist seinen schwierigen und wechselvollen Erfahrungen mit der praktischen Politik seiner Zeit im Maghreb abgerungen. Sein mehrbändiges Hauptwerk, das „Buch der Beispiele“ (Kitāb al-ʿIbar), enthält eine geniale „Einführung“ (Muqaddima), die bis heute seinen Rang als Denker begründet. Darin versucht Ibn Khaldun die Ursachen und Bedingungen für den Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen ausfindig zu machen, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit der Muqaddima sollen zunächst die Umrisse der politischen Theorie Ibn Khalduns gezeichnet und im historischen Kontext eingebettet werden; wichtige Begriffe wie „asabiyya“ (Gemeinsinn oder Gruppensolidarität) oder „umran“ (Kultur) sollen erläutert und Themen wie Macht, Kalifat, Königtum, Krieg, Religion und Politik, Aufstieg und Niedergang von Gesellschaften, der Gegensatz von Land und Stadt, Methoden der Wissenschaft etc. im Argumentationszusammenhang erschlossen werden. Dabei werden wir stellenweise vergleichende Seitenblicke auf europäische politische Denker wie Machiavelli, Hobbes oder Montesquieu werfen. Schließlich soll auch die Rezeption des Werkes Ibn Khalduns in Europa und in den USA eigens thematisiert werden. Mit dem Seminar verbinde ich die Hoffnung, dass eine Einführung in die politische Theorie Ibn Khalduns auch noch heute zum Verständnis der Politik und ihrer krisenhaften Erscheinungen vor allem in der islamischen Welt beitragen könnte; vielleicht aber auch, dass so manche pauschale Urteile der Europäer und US-Amerikaner über die islamische Welt kritisch hinterfragt werden könnten: nicht zuletzt die verbreitete Auffassung etwa, das politische Denken sei letztlich eine europäische Erfindung und Angelegenheit, die islamische und übrige Welt habe im Grunde über Jahrhunderte hinweg im Halbdunkeln gelebt, ohne sich Rechenschaft abzulegen |
Literatur |
Al-Azmeh, Aziz, 1981: Ibn Khaldūn in modern scholarship. A Study in Orientalism, London, Third World Centre. Cheddadi, Abdesselam, 2006: Ibn Khaldûn. L`homme et le théoricien de la civilization, Paris, Gallimard. Ibn Khaldûn, 1967: The Muqaddimah. An Introduction to History, übersetzt und herausgegeben von Franz Rosenthal, 3 Bände, Cambridge. Ibn Khaldûn, 2002/12: Le Livre des Exemples, übersetzt und herausgegeben von Abdesselam Cheddadi, 2 Bände, Paris, Gallimard (Bibliothèque de la Pléiade). Ibn Khaldūn, 2011: Die Muqaddima. Betrachtungen zur Weltgeschichte, übersetzt und herausgegeben von Alma Giese, München, Beck. Lambton, Ann K. S., 1981: State and Government in Mediavel Islam. An Introduction to the Study of Islamic Political Theory: The Jurists, Oxford University Press. Rosenthal, Erwin, 1962: Political Thought in Medieval Islam, Cambridge University Press. Sivers, Peter von, 1968: Kalifat, Königtum und Verfall. Die politische Theorie Ibn Khaldūns, München, Paul List Verlag |