Im Zuge der Europäischen Integration werden heute viele politische Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen und dann von den Mitgliedstaaten umgesetzt. Ein seit der Jahrtausendwende zunehmend an Bedeutung gewinnender sozialwissenschaftliche Forschungsstrang untersucht klassischerweise die Rückwirkungen dieser europäischen Integration auf die Nationalstaaten, deren politische Entscheidungsprozesse, institutionellen Strukturen oder politischen Programme. Entsprechend der Einflussrichtung „von oben nach unten“ wird dieser EU-induzierte Wandlungsprozess auch vertikale Europäisierung genannt. Besonders deutlich werden vertikale Europäisierungsprozesse in Bereichen, in denen die EU direkte Gesetzgebungskompetenzen hat, und die Nationalstaaten diese umsetzen. Die EU hat jedoch nicht in allen politischen Bereichen eine gesetzgebende Rolle, und kann somit nicht überall über Vorgaben und Richtlinien steuern. Besonders in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wird deshalb von einer Koordinierung durch „weiche Instrumente“ gesprochen: mithilfe von Berichten, Richtwerten, finanziellen Anreizen oder “naming und shaming“ soll eine zunehmende Koordinierung der nationalen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik erreicht werden. Obwohl die Umsetzung der EU-Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik freiwillig ist, sollen die Instrumente eine größtmögliche Verbindlichkeit erreichen. Für die Europäisierungsforschung ergeben sich daraus neue theoretische und methodische Herausforderungen, da weiche Instrumente anders wirken als direkte Gesetzesvorgaben. Das Seminar möchte sowohl diese theoretischen und methodischen Herausforderung für die Europäisierungsforschung, als auch die inhaltlichen Aspekte der Europäisierungsprozesse im Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik erarbeiten. Jeder Sitzung liegen sowohl ein inhaltliches als auch ein ein praktisches Lernziel zugrunde. Inhaltliche Lernziele beziehen sich – neben der Aneignung der theoretischen Konzepte der vertikalen Europäisierung – zum Beispiel auf die EU-Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, auf nationale und subnationale Politiken in diesem Bereich oder auf unterschiedliche nationale Kontextbedingungen (wie z.B. hohe Arbeitslosigkeit oder eine schwache öffentliche Verwaltung). Praktische Lernziele beziehen sich auf allgemeine und wissenschaftliche Fertigkeiten wie Präsentationstechniken, Recherchetechniken, grafischen Darstellungsmethoden, Umgang mit Primärdaten, kleinere quantitative und qualitative Analysen, sowie das schnelle Erfassen von komplexen Sachverhalten und Texten. Das übergeordnete Ziel des Seminars ist es, den Studierenden am Beispiel von vertikalen Europäisierungsansätze und der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die praktische Anwendung eines theoretischen Analysekonzeptes näherzubringen. Sie sollen befähigt werden, dies auch in anderen theoretischen und inhaltlichen Zusammenhängen anzuwenden.
Vorbereitungslektüre:Bulmer, S. und Lequesne, C. (2013). The European Union and its Member States. : An Overview. In: Bulmer, S. und Lequesne, C. (Hrsg.): The Member States of the European Union. Oxford, Oxford University Press: 1-30Olsen, J.P. (2002): The many faces of Europeanization. Journal of Common Market Studies, 40 (5): 921-52.