Kommentar |
Wien, Habsburger Monarchie (bzw. Österreich-Ungarn), Anno Domini 2000. Das ist das Setting von Hannes Steins Roman Der Komet (2013), einer kontrafaktischen Geschichte, die mit der Phantasie spielt, dass die Habsburger 1914 Serbien keinen Krieg erklärt und deshalb auch keinen Ersten Weltkrieg ausgelöst haben. Die Konsequenz dieser Entscheidung ist, dass die Habsburger Monarchie am Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch existiert, und zwar als ein Vielvölkerstaat, der sich allmählich demokratisiert und eine gut funktionierende Struktur angenommen hat, in der alle Völker der Monarchie – von den Deutschen über die Juden und Kroaten bis zu den Polen, Slowaken und Tschechen etc. – tatsächlich gleichberechtigt sind. Die Vielvölkeridylle, die der Roman beschwört, stellt eine klare und bewusst ironische Umkehrung der europäischen Geschichte dar. Sie spielt jedoch auch – parodistisch und wohlwollend zugleich – mit dem Mitteleuropa-Diskurs, der seit dem 18. Jahrhundert immer neue Bilder schafft, in denen Mitteleuropa (oder Ostmitteleuropa bzw. Zentraleuropa) als ein Gebiet harmonischer Kulturvielfalt imaginiert wird. Mitteleuropa wird in diesen Bildern als das Land der goldenen Mitte betrachtet, in dem sich die unterschiedlichsten Sprachen, Religionen und Gesellschaften friedlich begegnen und gegenseitig bereichern. Diese Mitteleuropa-Vorstellung fungiert als Gegengewicht zu anderen Konzeptionen der Region, die hegemonisch vorgehen und die Vorherrschaft einer Kultur über das gesamte Gebiet bzw. einen Teil vorsehen (es geht dabei meistens – aber keineswegs nur – um die deutsche Kultur).
Das Seminar widmet sich der Geschichte des Mitteleuropa-Diskurses seit dem 18. Jahrhundert und seinem Schwanken zwischen emanzipatorischem und hegemonialem Elan. Es fokussiert dabei den Diskursbeitrag der Literatur –eine wichtige Plattform für die Imagination Mitteleuropas. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei zwei Literatengruppen: 1) den habsburgischen deutschen und deutschjüdischen Autoren um 1900 (Hugo von Hofmannsthal, Joseph Roth, Stefan Zweig), die sich für ein mehr oder weniger pluralistisches Mitteleuropa einsetzten; 2) den mitteleuropäischen Autoren der Zeit des „Kalten Krieges“, die für ein Mitteleuropa der Vielfalt plädierten (Drago Jančar, György Konrád, Milan Kundera, Czesław Miłosz), ohne dabei jedoch zu vergessen, dass das historische Mitteleuropa auch vor den beiden Weltkriegen ein konfliktreiches Gebiet war (Miroslav Krleža, Claudio Magris). Sein Konfliktpotenzial gründet dabei unter anderen in der Tatsache, dass Mitteleuropa eine komplexe Geschichte als Expansionsziel verschiedener Imperien (Habsburgische Monarchie, Osmanisches Reich, Preußisches Königreich, Russisches Reich, Sowjetunion) aufweist, die in ihren historisch-geographischen Konturen zu erläutern ist.
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