Kommentar |
Die Corona-Pandemie hat weitreichende soziale Folgen in nahezu allen Lebensbereichen, vom Gesundheitssystem über das Erwerbs- und Wirtschaftssystem bis hin zu Familien, Geschlechterverhältnissen und den Einzelnen. Bisher erhalten die gesundheitlichen Auswirkungen und Langzeitfolgen einer Infektion mit SARS-CoV-2 für die Betroffenen kaum Aufmerksamkeit. 5-7 % der mit Corona Infizierten leiden unter Post-/Long Covid-Symptomen (PC/LCS). Die sozialen Auswirkungen dieser oft langfristigen Komplikationen auf Gesellschaft, Wirtschaft, Sozialversicherungs- und Gesundheitssystem sind von erheblicher gesamtgesellschaftlicher Bedeutung (Al-Aly et al. 2024).
In dem zweisemestrigen Projektseminar gehen wir von der Frage aus, wie Menschen mit Post-/ Long-Covid mit ihrer Erkrankung umgehen und welche Folgen sie im gesamten Lebenszusammenhang hat (Triggerwarnung: dies sind Themen aus dem Bereich Prekarisierung und chronische Erkrankungen). Zentral interessiert uns, wie die Menschen im Gesundheitssystem, von Arbeitgebern und Sozialversicherungsträgern behandelt werden, welche Hilfe sie (nicht) erhalten, welche Hürden und Anerkennungsdefizite bestehen und welche Geschlechterungleichheiten sich zeigen. Sog. typische weibliche Berufe im Gesundheitswesen haben ein erhöhtes Corona-Infektionsrisiko. Zugleich werden oft die Symptome als „psychisch“ oder „eingebildet“ abgetan, besonders bei weiblichen Erkrankten, aber auch bei anderen. Übergreifendes Thema sind Hürden oder Ressourcen im gesamten Lebenszusammenhang (Kufner 2025). Wir fragen z.B.: Wie gehen Ärzt:innen und Reha-Einrichtungen mit den Erkrankten um? Wird die Erkrankung als Arbeitsunfall oder Berufskrankheit anerkannt? Die Voraussetzungen dafür sind hoch, viele Fälle werden nicht anerkannt (Nienhaus / Schneider 2022). Auch die Beantragung einer Erwerbsminderungsrente über die Rentenversicherung ist langwierig und schwierig. Auf welche Hürden stoßen die Erkrankten in den Verfahren, in der Arbeitsstätte, im medizinischen und sozialversicherungsrechtlichen Begutachtungsprozess, in den Familien? Gibt es Geschlechterunterschiede? Wie gehen die Erkrankten, oft sorgeleistende Frauen, mit doppelten Sorgelücken in ihren Familien um (Jahn et al. 2024)?
Wir beschäftigen uns mit diesen Fragen aus subjektorientierter, prekarisierungstheoretischer Perspektive auf Geschlecht, Gesundheit, Ungleichheit und Prekarisierung im Lebenszusammenhang (Wimbauer/Motakef 2020). Nach einer Einarbeitung in theoretische Grundlagen, gesundheitspolitische und sozialversicherungsrechtliche Fragen im SoSe 25 erarbeiten die Teilnehmenden in Kleingruppen eigene Fragestellungen und führen dazu Ende des 1. oder anfangs des 2. Teils selbständig Expert:inneninterviews (zB mit Sozialberatungen, Betriebsrät:innen, Betriebsärzt:innen, Gesundheitspersonal, Reha-Einrichtungen, Vertreter:innen der Renten- und Unfallversicherung, Selbsthilfegruppen u.a.m.) oder ggf. andere Analysen durch. Im WS 25/26 wir das Material ausgewertet und gemeinsam im Fallvergleich betrachtet sowie gesundheits- und geschlechterpolitischer Handlungsbedarf erarbeitet. Die Ergebnisse sollen in geeigneter Form öffentlich gemacht werden.
Das Projektseminar erfordert unabdingbar inhaltliches Interesse an sowie Kenntnisse bzgl. Geschlechterfragen und qualitativen Methoden, hohes und zuverlässiges Engagement und die eigenständige Durchführung eines Forschungsprojektes (ggf. in AGs). Der Zeitaufwand für qualitatives Forschen ist hoch. Regelmäßige Teilnahme und aktive Beteiligung sind Grundvoraussetzung.
Neben der Lektüre der Pflichttexte, viel und eigenständiger Kommunikation und der eigenen Recherche sind ein kurzes Input-„Referat“ mitsamt Sitzungsmoderation obligatorisch sowie das Verfassen eines Kurzessays/schriftlicher Ausarbeitungen. Zentral ist ein eigenes empirisches Projekt zu konzipieren (Fragestellung, theoretischer Hintergrund, methodisches Vorgehen) und vorzustellen. In einem (ggf. AG-) Zwischenbericht zu September 2025 ist dies zu verschriftlichen.
Im zweiten Teil des Projektseminars (WS 25/26) steht die Umsetzung der Projektideen im Vordergrund und Teilergebnisse der Einzelprojekte sollen diskutiert werden. Diese sind zuletzt im Seminar zu präsentieren und in einem Forschungsbericht darzustellen. |
Literatur |
- Al-Aly, Z., Davis, H., McCorkell, L. et al. Long COVID science, research and policy. Nat Med 30, 2148–2164 (2024). https://doi.org/10.1038/s41591-024-03173-6
- Jahn, Franziska, Christine Wimbauer und Mona Motakef (2024): Paarbeziehung und Familie: Eine vernachlässigte „Schnittstelle“ bei der (beruflichen) Re/Integration von an Long/Post COVID Erkrankten. In: Sozialer Fortschritt, Jg. 73, Heft 8-9, S. 689-705. Sonderband zur beruflichen Reintegration, hrsg. von Nina Baur et al.
- Kufner, Nadja (2025): ‚Wenn Du auf den Staat wartest, hast Du verloren.‘ Herausforderungen von Long COVID- und Post-Vac-Betroffenen bei der Krankheitsverarbeitung im vergeschlechtlichten Lebenszusammenhang: Exemplarische Analyse einer virtuellen Selbsthilfegemeinschaft (unv. MA Arbeit, HU Berlin, erscheint 2025 bei Juventa).
- Nienhaus, Albert und Stephanie Schneider (2022): COVID-19 als Berufskrankheit und Arbeitsunfall, 170_176_asu_2022_03_wissenschaft_03_nienhaus.pdf.
- Wimbauer, Christine und Mona Motakef (2020a): Prekäre Arbeit, prekäre Liebe. Über Anerkennung und unsichere Lebensverhältnisse. Frankfurt/New York: Campus. Kostenlos erhältlich unter https://www.campus.de/e-books/wissenschaft/soziologie/prekaere_arbeit_prekaere_liebe-16170.html (rechts oben, download e-book).
- https://www.bmg-longcovid.de/
- https://longcoviddeutschland.org/
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