Kommentar |
Ein altes und in der philosophiegeschichtlichen Forschung noch relativ verbreitetes (Vor-)Urteil besagt, dass die römische Philosophie der griechischen insgesamt untergeordnet blieb und von einem Mangel an Systematik, theoretischer Tiefe und Originalität geprägt sei. Der römische Geist sei eher praktisch als theoretisch veranlagt und könne den hohen Abstraktionsgrad der griechischen philosophischen Spekulation nicht erreichen. Ziel dieser Vorlesung ist, dieses Urteil in Frage zu stellen und den Versuch zu wagen, die Bedeutsamkeit, Originalität und unerschöpfliche Komplexität der römischen Philosophie begreiflich zu machen. Durch eine intensive Auseinandersetzung mit ausgewählten Textstellen von Lukrez, Cicero, Horaz, Seneca, Apuleius, Augustinus und Boethius werden wir nachvollziehen können, wie die römische Philosophie entstand, wie die lateinische Sprache zu einer für den philosophischen Diskurs geeigneten Sprache wurde, wie sich das Verhältnis zwischen römischen Denkern und ihren griechischen philosophischen Vorbildern über unterschiedliche Phasen der römischen Geschichte von der republikanischen Zeit bis zur Spätantike und zum Niedergang des römischen Reichs entwickelt hat, welche neuen Wege die Hauptströmungen der griechischen Philosophie beschritten haben und welche gegenseitigen Kontaminationsprozesse zwischen unterschiedlichen philosophischen Traditionen stattgefunden haben, sobald sie in den römischen intellektuellen und gesellschaftlichen Kontext aufgenommen wurden. Ein zentraler Schwerpunkt der Vorlesung wird darin bestehen, das Spannungsverhältnis und die Interferenzen zwischen dem philosophischen Diskurs und anderen Diskursformen bzw. literarischen Gattungen (vor allem der Rhetorik, der Dichtung und der Tragödie) zu erörtern (in diesem Zusammenhang werden wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf Cicero, Horaz und Seneca richten). Schließlich wird die Auseinandersetzung mit Augustinus und Boethius uns ermöglichen, einige wesentliche Aspekte des Übergangs- und Transformationsprozesses zu erörtern, wodurch sich eine ‚philosophia christiana‘ einerseits in Abgrenzung vom paganen philosophischen Gedankengut und andererseits doch auch durch dessen Aufnahme und Umgestaltung erst konstituiert hat.
Einige Themen dieser Vorlesung werden parallel auch in der Vorlesung für Gräzistik ‚Die Philosophie der hellenistischen Zeit‘ behandelt. All denjenigen, die sich ein klareres Bild von den Kontinuitäten, Differenzen und Interferenzen zwischen griechischer und römischer Philosophie verschaffen möchten, ist die Teilnahme an beiden Vorlesungen herzlich empfohlen.
Die für die Vorlesung relevante Literaturliste wird am Anfang des Semesters bekanntgegeben und den Teilnehmer*innen in Moodle zur Verfügung gestellt. |