Kommentar |
Die 'Poetria Nova' Galfreds von Vinsauf, eine verbreitete lateinische Schulpoetik des beginnenden 13. Jahrhunderts, vergleicht die Wirkung der Poesie derjenigen einer alles transformierenden seelischen Energie. Sie mache das Letzte zum Ersten, das Künftige zum Gegenwärtigen, verwandle das Krumme ins Gerade, das Ferne ins Nahe, lasse das Grobe fein, das Alte neu, das Schwarze weiß, das Wertlose wertvoll erscheinen. Kurz: Die Macht der Dichtung bestehe darin, dass sie jede äußere Wahrnehmung realer Gegensätze innerlich ins Gegenteil verkehre und dadurch umwerte und verrätsele, vertiefe und intensiviere. Dasselbe gilt für die Wirkung der Minne, sprich: für die Macht des Eros als des stärksten Affekts, zu dem die menschliche Seele fähig ist. Auch er polt die Urteile der ratio, ohne dass sie darauf Einfluss nehmen könnte, bis hin zum zerrüttenden Liebeswahn um. Poetik und Erotik aber begegnen und überschneiden einander auf dem Feld einer dritten, besonderen Kunst der Seelenlenkung: der Magie. Sie bezeichnet eine Psychotechnik, die es erlaubt, unter Einsatz von Sprachkunst und erotisierender Phantasmen die Bewegungen innerhalb der Psyche auszurichten und die daraus resultierenden physischen Regungen durch einen äußeren Operator zu steuern. Der Wirkzusammenhang, den der Dreiklang des Seminartitels anspielt, hat gravierende Folgen für die Faktur mittelalterlicher Dichtungen und für die Mittel, mit denen sie daran arbeiten, ihre Wahrnehmbarkeit zu steigern. Im Mittelpunkt des Seminars stehen mittelalterliche Variationen der Echo und Narcissus-Metamorphose Ovids aus Minnesang (Heinrich von Morungen, Narciss-Lied), Tierschwank (Der Fuchs im Brunnen), Artusroman (Hartmann von Aue, Iwein) und allegorischer Dichtung (Roman de la Rose) sowie andere Artefakte wie Handschriftenilluminationen und Tapisserien. Wie werden untersuchen, wie jene unterschiedlichen Formen und Formate die Psychodynamik der magisch gesteigerten inneren Wahrnehmung interpretieren und problematisieren. Zudem stehen wichtige Forschungsbeiträge zur mittelalterlichen Theorie der Wahrnehmung auf dem Lektüreprogramm. |