Der Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts forderte die Erneuerung der Literatur nach dem Modell der exakten Wissenschaften. Durch genaue Beobachtung und gleichsam experimentelles Vorgehen sollte der Einfluss des sozialen Milieus und der familiären Vererbung auf menschliche Charaktere und Handlungsweisen geschildert werden. Dieser Anspruch zeigt sich exemplarisch im naturalistischen Drama, das eine besondere Nähe zur Wirklichkeit, auch und gerade zu den prekären Verhältnissen der unteren Gesellschaftsschichten, beanspruchte. Wenn man aber untersucht, wie Dramen des Naturalismus verfertigt sind, wird deutlich, dass hier noch andere Aspekte eine Rolle spielen als die Orientierung an wissenschaftlicher Präzision. Denn die dramaturgischen Mittel – die Art der Figurendarstellung, die Verwendung von Alltagssprache und Mundart, die Gestaltung von Raum und Zeit – zielen weniger auf Distanzierung und Nüchternheit als vielmehr auf die Illusion von Unmittelbarkeit und Authentizität.An diesem Doppelcharakter des naturalistischen Dramas zwischen Wissenschaftlichkeit und Illusionsbildung sollen sich die Lektüren des Seminars ausrichten. Gelesen werden Stücke von Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Johannes Schlaf und anderen, außerdem einige der wichtigen programmatischen und kritischen Schriften zum Naturalismus.Vorgesehene Arbeitsleistung: vertiefte Vorbereitung einer Sitzung mit Thesenpapier und kurzem Impulsreferat.
Zur Anschaffung und vorbereitenden Lektüre: Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama, Stuttgart 2017 (Reclams Universal-Bibliothek, 5,40 EUR); Arno Holz/Johannes Schlaf: Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen, Stuttgart 2013 (Reclams Universal-Bibliothek, 4,00 EUR).
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