Kommentar |
Dem Kultursemiotiker Jurij Lotman zufolge ist die Stadt ein „Kulturerzeuger“ („generator kultury“). Am Beispiel von Novgorod soll dieser Mechanismus, den zuerst die Vertreter der Moskau-Tartuer Schule der Kultursemiotik untersucht haben untersucht werden. Dabei wird die typologische Spannung zwischen Novgorod und Moskau im Zentrum stehen, aus der sich der Mythos von Novgorod speist, das als Gegenpol zur zarischen politischen Kultur verstanden wird. Im Seminar wird die Rolle Novgorods in der Herausbildung des russischen Nationalmythos untersucht und gefragt, wie die Stadt für unterschiedliche und manchmal ideologisch entgegengesetzte Strategien der Sinnbildung eingesetzt wurde. Anhand der Texte aus dem späten 18. und dem beginnenden 19. Jahrhunderts werden literarische Novgorod-Imaginationen und Prozesse der (Um-)gestaltung der Novgorod-Poetik verfolgt. Am Ende sollen die folgenden Fragen beantwortet werden: Gibt es den „Novgoroder Text“ im Sinne des von Ju. Lotman, B. Uspenskij, V. Toporov herausgearbeiteten „Petersburger Texts“ der russischen Kultur? Welche Rolle kommt Novgorod als eigenständigem „Kulturerzeuger“ der russischen Kultur zu? Was sind die konstitutiven Elemente der Novgorod-Mythopoetik und welchen Änderungen unterliegen sie? Welche Rolle spielte Novgorod als kulturell-historisches Symbol im Nationalmythos und auf welche Weise wurde es in den politischen und national-philosophischen Diskussionen instrumentalisiert? Das Seminar bietet Einblick in die Geschichte (der symbolischen Kodierungen) Novgorods in einer Vielzahl medial unterschiedlicher Darstellungen und die Möglichkeit, Grundlagen der Kultursemiotik und des typologischen Ansatzes in der Kulturforschung anhand des gewählten Beispiels zu erproben.
Lektüre zur Einführung: Lotman Ju., Die Symbolik Petersburgs, in: Ju. Lotman, Die Innenwelt des Denkens: Eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin: Suhrkamp 2010. 269-288; Lotman, Ju., Uspenskij, B., Die Idee „Moskau - das Dritte Rom“ in der Ideologie Peters I., in: Uspenskij, B. Semiotik der Geschichte, Wien 1991, S. 113-130. |