Kommentar |
Rache gilt gemeinhin als archaisches und überkommenes Phänomen, das früheren Epochen menschlicher Gemeinschaft oder dem außereuropäischen bzw. nicht-westlichen Raum zugeordnet wird. Zugleich sind heutige Redeformen bezüglich konflikthafter interkultureller Auseinandersetzungen und international affairs auf dem großen politischen Parkett durchsetzt mit vielfältigen Rachemustern und -rhetoriken wie „Vergeltungsschlägen“, „Sanktionen“ und „Repressalien“, „Rachefeldzügen“, Akten des „Heimzahlens“ oder der „Sühne“, in deren Zeichen (staatliche) Gewalttaten und Kriege legitimiert werden.
Welche Verletzung ging der rächenden „Gegenverletzung“ (F. Nietzsche) voraus und welche wird ihr folgen? Auf welche soziale, kommunikative und emotionale Verbindung zwischen rächender und zu-schädigender Partei lassen Rachegefühle oder Racheakte schließen? Wie lässt sich der ökonomische Ausgleichsversuch zwischen den beiden Parteien, der auf einen vorgängigen Verlust, Verrat oder ein Unrecht reagiert, systematisch beschreiben? Wem gegenüber ist der rächende Part verpflichtet: sich selbst und/oder den Wünschen und Werten einer Nation, Gruppe, Gottheit oder (verstorbenen) Person?
Rachebeziehungen wurden in der Philosophie-, Dramen- und Theoriegeschichte in Assoziation mit Termini wie Austausch, Gabe und Schuld, Wiederherstellung und Wiedergutmachung besprochen (u.a. M. Foucault, S. Freud, R. Girard, B. Vinken); sie wurden als „Femegericht“, „Selbstjustiz“, „Blutfehde“ oder „Ehrenmord“ adressiert. In welchem Verhältnis steht Rache kultur- und rechtshistorisch zu Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit, Gerichtswesen und Rechtsstaatlichkeit und deren Grenzen? Welche Gegenmittel gegen Rachedynamiken kennen Kultur-, Politik- sowie psychologische Therapiegeschichte? Welche Haltung zur Rachelogik spiegeln Texte aus den heiligen Schriften der drei Buchreligionen wider (u.a. Christina von Braun)? Welchen Beitrag zur Rachekonfiguration leisten biblische Figuren wie Lilith, Samson oder der angeblich rächende Gott des Alten Testaments? Und welche Ideen für die Eindämmung von Rachespiralen liefern religiöse oder säkulare Gemeinschaften – durch Modelle wie Verzeihen, Vergeben, Reparation und Transformation (u.a. Pumla Gobodo-Madikizela, Transformative Justice), durch Anerkennung des Leids des ‚Anderen‘ oder, indem das Narrativ der Gegenseite studiert wird (z.B. Dan Bar-On)?
Im Projektseminar und dem dazugehörigen Colloquium werden grundlegende Texte der Rachetheoriegeschichte – aus Philosophie, Religionsgeschichte, Politikwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Psychologie/Psychoanalyse, Rechtsgeschichte – sowie einschlägige fiktionale Beispiele aus der Mythologie-, Dramen-, Literatur- und Filmgeschichte analysiert. Auf diese Weise werden unterschiedliche Modi und Formationen der Rache erarbeitet und deren poetologische, ästhetische und mediale Inszenierung erkundet (u.a. Analyse von musealen Ausstellungen, Podcasts, Spiel- und Dokumentarfilmen, etc.).
Ziel ist es, sich durch kulturhistorische Rückgriffe ein kritisches analytisches Instrumentarium anzueignen, mithilfe dessen aktuelle Konfigurationen racheorientierten Verhaltens auf individueller und kollektiver Ebene erkannt, eingeordnet und problematisiert werden können. Dabei soll eruiert werden, welche (destruktive und wissensproduktive) Funktion Rache in postmodernen demokratischen und anderen Gesellschaften übernimmt und was dieser präventiv entgegengehalten werden kann.
Als Projekt initiieren die Teilnehmenden Gespräche mit Expert*innen und Wissenschaftler*innen und präsentieren ihre eigenen Forschungsergebnisse in Form von Referaten, Podcasts, Dokumentarfilmen oder anderen multimedialen Artefakten. |