Kommentar |
"Der Staat ging uns schon immer am Arsch vorbei..." intonierte André Greiner-Pol ("P wie Peitsche, O wie Osten, L wie Liebe") als Frontmann der von ihm 1977 in der DDR gegründeten Bluesrock-Band Freygang. Eine, zumindest auf den ersten Blick, recht klar erscheinende Ansage, welche so in dieser Form jedoch aus umgekehrter Perspektive von den kulturpolitischen Funktionären der DDR sicher nicht unterzeichnet worden wäre: Staatliche Kontrolle und Einflussnahme hatten gerade hinsichtlich der sogenannten Tanz- und Unterhaltungsmusik oberste Priorität und wurden mit geradezu ängstlicher Unnachgiebigkeit gefordert und nach den gegebenen/geschaffenen Möglichkeiten entsprechend umgesetzt. Als zentrale Instanz wurde diesbezüglich ab 1953/57 das staatliche Einstufungssystems (zum Erhalt der sogenannten Pappe als Spielerlaubnis im öffentlichen Raum) etabliert, mittels welchem die Beziehung zwischen Staatsmacht, Musikschaffenden und der damit verbundenen Szene (Fans, Clubs etc.) definiert bzw. reglementiert werden sollte. Gemäß dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche stand allerdings drohend hinter der Spielerlaubnis ebenso das Spielverbot, welches in Verbindung mit weiteren Maßnahmen (z. B. Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit durch IM-Tätigkeit) dazu dienen sollte, unerwünschte Erscheinungen auf Produktions- und Rezeptionsebene gleichermaßen auszuschalten. Als langfristige Zielsetzung galt hier die Errichtung eines staatlichen Kulturmonopols, welches jedoch von Beginn an unterlaufen und ausgehöhlt wurde, so dass die angestrebte Kontrolle immer auch zu weiterem Kontrollverlust führte – ein Feedback-Loop (als Wechselwirkung zwischen staatlicher Doktrin, künstlerisch-subkultureller Praxis und Publikum), der schließlich (bei allem individuellen Leid) doch zum Erstarken der Szene beigetragen und schließlich kulturelle Phänomene evoziert hat, welche so nur unter den spezifischen Bedingungen sozialistischer Kulturpolitik möglich waren. Hiervon sollen ausgewählte Beispiele aus den Bereichen Blues, Rock, Punk und Metal zur Sprache kommen, wobei das Hauptaugenmerk auf den sogenannten "Anderen Bands" liegt (u. a. ein spezifischer Sammelbegriff zum Erfassen von so verschiedenartigen Formationen wie Freygang, Feeling B, Schleim-Keim, AG-Geige, Die Firma, Sandow, Herbst in Peking etc.), deren verstärkte kulturelle Selbstbestimmung/Selbstorganisation für gravierende systemimmanente Widersprüche sorgte und einen gesellschaftlichen Differenzierungs- bzw. Entfremdungsprozess befeuerte – Peter Wicke spricht diesbezüglich gar von einer "Verdopplung der Gesellschaft" – den es im Seminar ausgehend von der künstlerischen Produktion zu untersuchen gilt. |
Literatur |
(Auswahl, mehr im SE)
- Matthias Tischer, Lars Klingberg, Nina Noeske, Musikgeschichte Online DDR: https://mugo.hfmt-hamburg.de/de
- Peter Wicke, Rock Around Socialism. Jugend und ihre Musik in einer gescheiterten Gesellschaft, in: Dieter Baacke (Hg.), Handbuch Jugend und Musik, Opladen 1998, S. 293-305, und weitere Texte: http://www.popmusicology.org/page4.html
- Michael Rauhut, Thomas Kochan (Hg.), Bye Bye Lübben City, Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2018
- Ronald Galenza, Heinz Havemeister, Feeling B, Mix mir einen Drink, Punk im Osten, Ausführliche Gespräche mit Flake, Paul Landers und vielen anderen, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2010
- Ronald Galenza, Heinz Havemeister (Hg.), Wir wollen immer artig sein …, Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR von 1980 bis 1990, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2013
- Anne-Kristin Schmidt, Musik als Werkzeug der Indoktrination, Am Beispiel der Festouvertüre 1948 von Ottmar Gerster und dem Mansfelder Oratorium von Ernst Hermann Meyer, Are Musik Verlag, Mainz 2009
- Frank Schneider, Momentaufnahme: Notate zu Musik und Musikern der DDR, Reclam Verlag, Leipzig 1979
- Anne Hahn, Frank Willmann, Satan, kannst du mir noch mal verzeihen, Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest, Ventil Verlag Mainz 2008
- Florian Lipp, Punk und New Wave im letzen Jahrzehnt der DDR, Akteure – Konfliktfelder – musikalische Praxis, Waxmann Verlag, Münster 2021
- Nikolai Okunew, Red Metal, Die Heavy-Metal-Subkultur der DDR, Ch.Links Verlag, Berlin 2021
- Dominik Schrage, Holger Schwetter, Anne-Kathrin Hoklas (Hg.), „Zeiten des Aufbruchs“ – Populäre Musik als Medium gesellschaftlichen Wandels, Springer VS, Wiesbaden 2019
(weitere Literatur wird im SE bekanntgegeben) |