Kommentar |
Nationalismus ist einerseits ein Phänomen, das gewöhnlich erst der Moderne als dem Zeitalter der Nationalstaaten zugeordnet wird, speziell der Zeit ab dem 18. Jahrhundert. Andererseits ist Nation bereits im Mittelalter ein häufig verwendeter Zugehörigkeitsbegriff, nicht nur im Namen „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“, sondern auch an Universitäten und auf Konzilien. Zudem führen sich viele moderne europäische Nationalstaaten bzw. solche, die es werden wollen, auf mittelalterliche Wurzeln zurück, oft unter Behauptung einer direkten Kontinuität. Auch für die verspätete Nation Deutschland bzw. die deutschen Staaten war dieser Bezug stets von größter Wichtigkeit. In der Tat sind Ansätze für ein deutsches Nationalbewusstsein im Sinne eines auf kollektiver Identitätsbildung und Abgrenzung beruhenden Symbolsystems (W. Reinhard) bereits im Mittelalter zu finden – allerdings mit deutlichen Unterschieden zum modernen Nationalismus. Die deutsch (-deutsche) Mediävistik hat dazu bereits am Ende des 20. Jahrhunderts eine intensive Debatte geführt. Nachdem dann in der Folge der Umbrüche von 1989 zunächst das Ende des Nationalstaats prognostiziert wurde, ist seit einiger Zeit wieder eine Rückkehr des Nationalen im politischen Diskurs zu diagnostizieren. Nicht selten wird dabei explizit und in anachronistischer Weise auf das Mittelalter rekurriert. Umso wichtiger ist heute die kritische historische Reflektion über die Existenz eines deutschen Nationalbewusstseins und seine Entwicklung vom Hochmittelalter bis zum Humanismus. Das Seminar führt anhand der Diskussion von Quellen und Literatur zu ausgewählten einschlägigen Fragestellungen in das Studium der mittelalterlichen Geschichte ein. Zu den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Teilnahme gehören: 1) Gute englische Lesekenntnisse 2) Response Paper/Reflektion: Vor jeder Sitzung ist ein „response paper“ (Lektürekommentar) zu den zu lesenden Texten, verbunden mit einer individuellen Reflektion zur Seminardiskussion in der vorangegangenen Sitzung, einzureichen (Umfang: 2 Seiten, Abgabefrist: 24 Stunden vor der Sitzung, d.h. dienstags, 10 Uhr; Einreichung als PDF über die von der HU verwendete Lernplattform „moodle“). Der Dozent wird bei der Lehre von Herrn Raphael Stepken, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Europäische Geschichte des Mittelalters, unterstützt. |
Literatur |
Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Auflage, München 2000, S. 440-458.
Ulrich Muhlack, Renaissance und Humanismus (EdG 93), Berlin/Boston 2017, S. 184-216 (= Kap.: Der humanistische „Nationendiskurs“ und die „Diffusion“ des Humanismus“).
Hans-Werner Goetz, Proseminar Geschichte: Mittelalter, 1. Aufl. Stuttgart 1993 (oder eine der späteren Auflagen). |