Kommentar |
Rilkes Modernität setzt nicht auf jähen Bruch, sondern auf die Transformation von poetischen Traditionen und kulturellen Beständen. Die griechisch-römische Antike hat dabei für ihn phasenweise einen so hohen Stellenwert, dass es fast scheint, als entfalte er die Modernität seines Dichtens systematisch aus einem Dialog mit ihren vielfältigen Überlieferungen. Rilke setzt sich in seinen Gedichten immer wieder in Beziehung zu antiken Dichtern und Dichterinnen (etwa Sappho), verleiht Mythen neue Pointen (etwa Alkestis, Orpheus und Eurydike), beschreibt antike Kunstwerke (Archaischer Torso) und Artefakte, aber auch Erinnerungslandschaften wie die Römische Campagna oder die Provence. In der Auseinandersetzung mit der Antike entwickelt Rilke jene reflektierte Sprachlichkeit, die für seine Gedichte und seine Poetik nach der Jahrhundertwende prägend ist. Konsequenterweise eröffnen Beschreibungen antiker Skulpturen die beiden Bände der Neuen Gedichte (1907/08). Mit den späten Sonetten an Orpheus schließlich erhebt Rilke eine mythologische Figur zum Adressaten und Akteur eines komplexen Zyklus, der radikal die Möglichkeiten moderner Sprache auslotet. Die Antike als Referenzkultur steht dabei in Konkurrenz vor allem mit dem alten Ägypten, aber auch mit anderen Traditionen wie etwa der russischen Kultur oder der Lebensform der Saltimbanques, die als Quellen alternativer Weltbezüge konzipiert werden. Das SE will dem Dialog zwischen Antike(n) und Modernität, wie ihn Rilke in seinem Werk führt, an ausgewählten Beispielen nachgehen. Dabei werden die Neuen Gedichte und die Sonette an Orpheus eine wichtige Rolle spielen, aber auch Texte aus anderen Werkzusammenhängen werden berücksichtigt. Ein detailliertes Programm mit Literaturangaben wird in der ersten Seminarsitzung vorgestellt. |