Kommentar |
Der Krisenbegriff spielt eine zentrale Rolle in der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften. Unter „Krise" wird in der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie ein Prozess der Zuspitzung verstanden, der die soziale Reproduktion eines Gesellschaftsgefüges gefährdet und damit eine (normative) Funktions- und Integrationsstörung desselben zum Ausdruck bringt. Als „soziale Pathologien" wiederum werden in der gegenwärtigen Sozialphilosophie soziale Fehlentwicklungen und Störungen bezeichnet. Thematisierbar werden mit diesem Konzept die gesellschaftlichen Bedingungen individueller Selbstverwirklichung und deren strukturelle Beschränkungen, die sich in sozial induziertem Leid niederschlagen. Zur Debatte stehen dabei nicht nur die Kriterien für diese gesellschaftlichen Störungen, sondern eben auch das Verhältnis zwischen den subjektiven Indikatoren solcher Fehlentwicklungen und dem Aufweis von zugrundeliegenden objektiven Krisentendenzen sozialer Institutionen und Praktiken.
In dem Seminar werden wir uns vergleichend mit beiden Konzepten – „soziale Pathologie" und „soziale Krise" – auseinandersetzen, mit dem Ziel, sowohl Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser zu verstehen als auch grundlagentheoretische Annahme beider Konzepte kritisch zu hinterfragen. Dabei werden u.a. folgende Fragen eine Rolle spielen: Wie genau verhalten sich objektive Krisentendenzen und subjektive soziale Leiderfahrung zueinander? Welche philosophisch reflektieren Zeitdiagnosen ermöglichen beide Konzepte und welche sozialen Phänomene lassen sich jeweils mit ihnen beleuchten? Welche Vorstellung von Gesellschaft, ihrem Funktionieren und ihren Störungen, liegt einer sozialphilosophischen Krisen- und Pathologiediagnose zugrunde? Und welche normativen Maßstäbe lassen sich jeweils (auf welcher Grundlage) ausweisen? Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen werden wir im Seminar u.a. mit Rousseau, Hegel, Marx und Durkheim einige historisch stichwortgebende Positionen der Pathologie- und Krisendiagnose untersuchen und mit neueren Diskussionsbeiträgen zum Thema (u.a. Honneth, Neuhouser, Habermas, Fraser) ins Verhältnis setzen. |
Literatur |
Zur Einführung in die Problematik: Axel Honneth, „Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie", in: Pathologien des Sozialen, Frankfurt a.M. 1996, S. 11 -69.; Reinhart Koselleck, „Krise", in: Brunner, Otto, et al.: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart, 1982, S. 617-650. |