Kommentar |
Kaum ein Künstler der Frühen Neuzeit hat die Kunst, aber auch die Kunstgeschichtsschreibung der späteren Jahrhunderte so stark geprägt wie Leonardo da Vinci (1452–1519), dessen fünfhundertster Todestag dieses Jahr weltweit mit einer großen Anzahl an Ausstellungen und Konferenzen gefeiert wird. Bereits in Giorgio Vasaris berühmter Lebensbeschreibung des Vincianers von 1568 werden einige der Mythen erschaffen, die für die Figur Leonardos noch heute charakteristisch sind. So wird dort nicht nur seine betörende Anmut und seine Experimentierfreude erwähnt, sondern auch seine Befähigung, Argumente von Gelehrten mit seinen Zeichnungen zu entkräften oder mit den Mächtigen seiner Zeit auf Augenhöhe zu kommunizieren.
Das Anliegen des Seminars ist es, sowohl die Rezeption von Leonardos Schaffen seitens von KünstlerInnen, LiteratInnen und FilmemacherInnen als auch die Beschäftigung mit seinem Werk in Kunst- und Wissenschaftsgeschichte sowie in der Philosophie gemeinsam auszuloten. Dabei wird bewusst ein transhistorischer und interdisziplinärer Ansatz gewählt: Ausgehend von der frühen Auseinandersetzung mit Leonardos Kunst und Kunsttheorie im Italien des 16. Jahrhunderts, über die Leonardo-Rezeption im Werk Poussins und die Erschaffung des „Genies Leonardo“ in der romantischen Literatur, hin zu den „dekonstruktiven“ Ansätzen Marcel Duchamps oder Andy Warhols aber auch der philosophischen Annäherung von Karl Jaspers sowie der Präsenz Leonardos in Comics und Computerspielen (Assassin‘s Creed), gilt es, die komplexen Mechanismen mythenbildender Verfahren kritisch zu untersuchen – und zwar sowohl in der gemeinsamen Bildanalyse als auch in der Textlektüre.
Die Fragen, die daraus resultieren, sind mannigfaltig und auch für unsere Zeit von Belang: wie ist das Verhältnis von künstlerischer Mythenbildung und wissenschaftlicher Analyse einzuschätzen? Wie kritisch ist der jeweilige Umgang mit historischen Quellen? Welche Genderstereotype werden auch heute noch in Bezug auf sogenannte genialische Künstler weitertradiert? Und nicht zuletzt: welche identitätsstiftenden, nationalen, aber auch ökonomischen Interessen stehen hinter derartigen Konstruktionen? |