Im Rahmen dieses Seminars soll eine neue Forschungshypothese erarbeitet werden. Sie zielt darauf, die Entwicklung einer impliziten Poetik in mittelhochdeutschen Dichtungen als vormodernes Muster moderner Avantgarden zu verstehen. Dazu ist zunächst kritisch zu überprüfen, was aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit lateinischen Schulpoetiken in der Regel unbefragt auf die volkssprachliche Literatursituation übertragen wird: Die Dichtungslehre gilt als fortgeschrittenes Stadium der Rhetorikunterrichts und somit als Anhang des aus der Antike adaptierten Bildungsprogramms der "Sieben freien Künste". Die Sprachkunst erscheint dort als "freies Tun" im überkommenen Sinne des aristotelischen poieîn: des vernunftgeleiteten Hervorbringens aus Vorhandenem. Demgegenüber ist ein bemerkenswerter Befund zu kommentieren: Mittelalterliche Dichtungen greifen seit dem 12. Jahrhundert häufig und mit Emphase auf Metaphern aus dem Feld der artes mechanicae zurück. Dadurch verschieben sie die Selbstbeschreibung der poíesis von den geistig abstrakten Grundlagen des Wort- und Zahlgebrauchs auf die Seite handwerklicher práxis, über die sich Materialität, Produktion und Leistung sprachlicher Artefakte beurteilen und bemessen lassen. Dadurch entsteht eine doppelte Paradoxie: Zunächst lenkt das Konzept der mechanischen Künste den Blick auf einen Bereich non-verbaler Tätigkeit (Christel Meier). Das heißt: Die Sprachkunst wird durch nicht-sprachliche Qualitäten charakterisiert, die vorwiegend durch vormachendes Handeln weitergegeben, durch nachahmendes Handeln eingeübt werden. Damit aber entäußert sich die ars ihrer Freiheit: Mittelhochdeutsch werden die artes mechanicae deshalb die eygin kunste genannt: Sie seien wie Werkzeuge oder Dienstleute fremdem Willen unterworfen. Auf diesem Weg entsteht ein Unding: eine "praktizierte Poetik", die nicht mehr wie Aristoteles práttein und poieîn kategorisch voneinander trennt (Eth. Nic. 1140a5), sondern als Wissensspeicher und Schauplatz interagierender Künste, ihrer Verfahren, Leistungen und Produkte in wechselseitigem Austausch fungiert. Die Künste werden mechanisch, das Handwerk in subtiler Weise virtualisiert. Wir werden dieser komplexen und langwierigen Entwicklung auf der Grundlage der mhd. Spruchdichtung und ihrer zünftig organisierten Fortführung im Meistersang nachgehen, außerdem poetologische Exkurse prägender Meister (wie Gottfried von Straßburg, Konrad von Würzburg und Frauenlob) hinzuziehen sowie versuchen, Analogien zum Programm moderner Avantgarden herauszuarbeiten. Die Textgrundlagen werden über Moodle zur Verfügung gestellt; die Einzelanalysen von Teilcorpora sollen in Gruppenarbeit entwickelt werden.
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