Das Rätsel ist immer zugleich Frage und Antwort: Es verschleiert, führt aber stets das Versprechen seiner Enthüllung mit sich. Mit dieser paradoxen Verdichtung setzt das Rätsel eine Denkbewegung in Gang, die von seiner Lösbarkeit ausgeht: Hat man die Verunklarung der Frage durchdrungen, scheint die Antwort greifbar. Um 1800 erlebt das Rätsel eine historische Transformation: Als ‚einfache Form‘ (Jolles), als Volksrätsel, verliert es an Relevanz – und taucht stattdessen in der Gestalt des ‚Rätselhaften‘ als Handlungsstruktur in neuen literarischen Genres sowie als Argumentationsfigur in modernen Methoden und Theorien wieder auf.Das SE verfolgt ein doppeltes Ziel. Es widmet sich in einem ersten Schritt der Analyse von Rätselstrukturen, -formen und -ästhetiken in der Schauer-, Kriminal- und phantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Hier stehen die Strategien im Zentrum, mit denen die Literatur das Rätselhafte zur Verunsicherung und Restabilisierung der Wirklichkeit einsetzt. In einem zweiten Schritt verfolgen wir die Spur des ‚Rätselhaften‘ bis in wichtige naturwissenschaftliche, soziologische und psychoanalytische Diskussionen der Jahrhundertwende hinein und fragen, wie die Theorien des Welträtsels, des Geheimnisses und der Paranoia mit den literarischen Verfahren des Rätselhaften zusammenhängen. Sind hier Argumentationsmuster im Spiel, auf die auch heutige Verschwörungstheorien zugreifen?Arbeitsleistung: Übernahme der Expert:innenrolle für eine Seminarsitzung
Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp 2013; André Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969; Doren Wohlleben: Enigmatik. Das Rätsel als hermeneutische Grenzfigur in Mythos, Philosophie und Literatur. Antike – Frühe Neuzeit – Moderne. Heidelberg: Winter 2014.
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