Aus postmoderner Sicht ist das Mittelalter eigentlich selbst eine queere Epoche, wobei das ‚Widerborstige‘ wahlweise in Vorstellungen von einer archaischen Primitivität oder einer starren Gesellschaftsordnung gefunden werden kann. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die ‚Queer studies‘ längst auch die Mittelalterforschung erfasst haben. Besonders in den Literaturwissenschaften, wo zeitweise sogar von einem ‚Queer turn‘ gesprochen wurde, waren derartige Ansätze sehr einflussreich und produktiv, während sie in den Geschichtswissenschaften bislang eine eher zögerliche Resonanz fanden.
Die Ansätze wirken enorm selbstbewusst und dynamisch. Behauptet wird eine eigene Theorie und Methode, nämlich das ‚queer reading‘, also eine ‚widerständige Lektüre‘, die Brüche und Ambivalenzen sucht, um im Subtext (angeblich) unterdrückte homoerotische Tiefenstrukturen zu entdecken. Nichtliterarische, mittelalterliche Texte ‚queer‘ zu lesen, wurde bislang selten erprobt. Material wäre vorhanden: Von den frühmittelalterlichen Bußbüchern mit ihren feinen Abstufungen sexueller Praktiken bis zu den Prozessakten der Jeanne d’Arc (Cross-Dressing!).
Eine besondere Herausforderung ist der Umgang mit der programmatischen Vielfalt und Ambivalenz der mediävistischen ‚queer studies‘. So gehen Forscher in der Tradition Thomas Laqueurs von der Vorstellung eines einzelnen Geschlechtskörpers und von fragilen Geschlechtsgrenzen im Mittelalter aus, wobei andererseits eine tiefgreifend misogyne und homophobe Praxis behauptet wird. Außerdem wird treu nach Foucault die Existenz einer sexuellen Identität für die Vormoderne abgestritten, andererseits aber die sexuelle Praxis als Identitätsmerkmal, besonders bei lesbischen Frauen, identifiziert.
Mittelalterliche Queer Communities oder geschlechtliche Indifferenz? Die Bandbreite der Deutungsangebote ist enorm und wird im Seminar viel Anlass für Diskussionen bieten. Nach einer Einführungsphase, in der wir theoretische Texte diskutieren, soll jeder Teilnehmer ein eigenes (nichtliterarisches) Quellenbeispiel zur Diskussion stellen, anhand dessen wir die methodischen Ansätze und inhaltlichen Erkenntnisse einer ‚queeren‘ Mediävistik erprobt werden.
Schnell, Rüdiger, Der queer turn in der Mediävistik. Ein kritisches Resümee, in: Archiv für Kulturgeschichte 95 (2013) 31-68.
Ausgleichsberechtigte Studierende wenden sich zur bevorzugten Platzvergabe per E-Mail mit einem Nachweis der Ausgleichsberechtigung an die Studienkoordinationsstelle Geschichte. Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Ausgleichsberechtigungen ist der letzte Tag der zentralen Frist, 16 Uhr. Textnachrichten in AGNES werden hingegen nicht gelesen!
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