Kommentar |
Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, soziologische Theorien im Geiste Durkheims und Webers, Polanyis Kritik selbstregulierter Märkte sowie die kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule lassen sich — zumindest bis zu einem gewissen Grad — auf Hegels Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zurückführen. Trotz ihrer Unterschiede teilen diese Ansätze das Hegel’sche Anliegen, die moderne Gesellschaft in ihrer Spezifität zu begreifen. Doch was genau versteht Hegel unter der „bürgerlichen Gesellschaft“?
In seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts fasst Hegel die bürgerliche Gesellschaft als eine eigenständige Sphäre der Sittlichkeit auf, die sich von Familie und Staat abgrenzt. Sie markiert eine Stufe in der Verwirklichung der Freiheit, gleichzeitig jedoch auch den „Verlust der Sittlichkeit“: eine sozial ausdifferenzierte Sphäre, in der Individuen ihre Bedürfnisse wechselseitig befriedigen, indem sie ihre Privatinteressen verfolgen. In diesem „System der Bedürfnisse“ spielt die Arbeit eine zentrale Rolle, die Hegel als eine Form der Anerkennung begreift. Die bürgerliche Gesellschaft funktioniert wesentlich durch Arbeitsteilung, die eine allgemeine Dynamik von Spezialisierung, gesellschaftlicher Vervielfältigung und wirtschaftlicher Anreicherung entfaltet. Gleichzeitig wirft solch eine Dynamik allerdings die soziale Frage auf: Ungleichheit, Armut und sogar die Herausbildung dessen, was Hegel den „Pöbel“ nennt, erscheinen als notwendige Konsequenzen jeder Marktwirtschaft. Dieser Widerspruch unterstreicht die Bedeutung von Institutionen, die den Markt regulieren: Hegel spricht in diesem Zusammenhang von der „Polizei“. Zudem betrachtet er die „Korporation“ als eine Möglichkeit, soziale Spannungen abzumildern. Dennoch, so die Pointe seiner Kritik, wird die bürgerliche Gesellschaft letztlich durch ihren immanenten Widerspruch „über sich hinausgetrieben“. Als Lösungsmöglichkeiten schlägt Hegel den internationalen Handel, die „Kolonisation“ und schließlich die Versöhnung der Gesellschaft im Staat vor. Aber inwiefern sind diese Antworten überzeugend?
Ziel des Seminars ist es, Hegels Kritik der bürgerlichen Gesellschaft eingehend zu analysieren. Das Blockseminar beginnt mit einer close reading der Grundlinien der Philosophie des Rechts (§ 181-256). Anschließend werden frühere und spätere Texte Hegels (System der Sittlichkeit, Enzyklopädie) herangezogen, um die Entwicklung seiner Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft nachzuziehen. Zum Abschluss werden zeitgenössische Ansätze der Kritischen Theorie diskutiert, die Hegels Kritik aufgreifen oder weiterentwickeln (Honneth, Ruda, Herzog, Jaeggi).
Es sind keine Hegel-Kenntnisse erforderlich. Entscheidend ist die Bereitschaft, sich intensiv mit den Texten auseinanderzusetzen. Für den rechtzeitigen Zugang zum Moodle-Kurs, wo sich die entsprechenden Texte befinden, schicken Sie bitte eine E-Mail an rodrigo.maruy@hu-berlin.de |