Kommentar |
Der Realismus des 19. Jahrhunderts begriff Romanhandlungen als wissenschaftliche Experimente: Wie ein neutraler Beobachter habe die Erzählinstanz, so reflektierte etwa Émile Zola, zu beobachten, wie sich die Figuren nach ‚naturgegebenen‘ Gesetzmäßigkeiten, determiniert von ihren Erbanlagen und ihrem Milieu, in einem darwinistischen Überlebenskampf entwickeln – und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Der Neorealismus, eine literarische, künstlerische und filmästhetische Strömung, die seit den 1930er Jahren in nahezu allen romanischen Kulturen aufgegriffen und in verschiedene Richtungen weiterentwickelt wird, wendet diesen poetologischen Ansatz in eine politisch-sozialkritische Richtung: ‚realistische‘ Darstellungsmodi sollen nun dezidiert dazu beitragen, unterprivilegierte und marginalisierte Bevölkerungsgruppen sicht- und hörbar zu machen, sollen ihre Lebensweisen ungeschönt dokumentieren, und die Determination von Handeln nun nicht mehr durch individuelle ‚Anlagen‘, sondern durch soziale und politische Machtstrukturen aufzeigen.
Ausgehend von Texten aus dem frühen italienischen Neorealismus (Vittorini, Pavese) wird das Seminar die spezifische Poetik dieser Bewegung zunächst in Abgrenzung zum Realismus erarbeiten, und anschließend die unterschiedlichen Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen der verschiedenen Neorealismen in Lateinamerika und Europa komparatistisch erarbeiten. Ein Schwerpunkt in der Seminararbeit wird darin liegen, das Verhältnis der neorealistischen Texte und Filme zu den Wissenschaften ihrer Zeit (insbesondere der Soziologie, Ethnographie und Ökonomie) zu analysieren. Immer wieder werden wir danach fragen, inwiefern neorealistische Texte und Filme Bezug auf ‚wissenschaftliche‘ Schreib- und Darstellungsweisen oder auf einzelne Theorien und Thesen nehmen, werden aber auch in den Blick nehmen, inwiefern die neorealistische Poetik – umgekehrt – auch ein Modell für die wissenschaftliche Darstellung und Untersuchung marginalisierter Bevölkerungsgruppen liefert.
Die Teilnehmer*innen erhalten damit einen Einblick in eine der prominentesten Strömungen von politisch engagierter Literatur im 20. Jahrhundert, werden romanistisch-komparatistisch und intermedial arbeiten und den literaturwissenschaftlichen Ansatz der Wissenspoetologie kennen lernen.
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