Musikalische Praxen sind in vielfältiger Weise mit dem Lebensraum Wasser verbunden. Viele Mythen der Antike schaffen eine Verbindung zwischen Klängen und dem Wasser: ihm entsteigen Göttinnen (Aphrodite, die Schaumgeborene), dort wirken die Sirenen und Meerjungfrauen, dort rettet ein musikaffiner Delphin den preisgekrönten Sänger Arion vor dem sicheren Tod, indem er ihn von Sizilien bis zurück in die heimatliche Ägäis auf seinem Rücken trägt. Seit der Antike dient Wasser als Antriebsquelle für Instrumente. Schliesslich gestalten Menschen seit Urzeiten ihre Verbindung zum Nahrung spendenden und zugleich gefahrvollen Meer auch in musikalischer und klangbezogener Weise aus. Indigenes Wissen respektiert das Meer, geht Symbiosen mit ihm ein, verehrt marine Lebewesen und die auf das Meer einwirkenden höheren Kräfte.
Die hier vorgeschlagene aquatische Musikologie möchte erkunden, wie der Mensch seine Fundamentalbeziehung zum Meer mittels Musik ausgestaltet. Die Vorlesung begreift das Meer nicht nur als Topos und Sujet von Kompositionen begreift, sondern als semantisches Ensemble (Harmut Böhme) und vielstimmigen Erfahrungsraum, die den Menschen zu vielseitigen Positionierungen herausfordern.
Der Titel der Vorlesung geht auf die symphonische Komposition «Become Ocean» von John Luther Adams (2013) zurück, die unter dem Eindruck des Klimawandels entstand. Hier wird der Ozean nicht mehr dramatisiert, sondern wir werden zu Metamorphosen und Verschmelzungen mit dem marinen Habitat eingeladen. So könnte eine empathische Haltung zum Meer im Sinne einer gemeinsam geteilten Zone entwickelt werden.
Die Vorlesung verdichtet verschiedene, auf das Element Wasser und auf das Meer als kulturellen Erfahrungs-, Imaginations- und Wissensraum bezogene Forschungen. Dazu zählen Ansätze aus der Anthropologie, Biomusikologie, akustischen Ökologie, Popkulturforschung, den Island Studies und Transkulturelle Theorien. Hierzu werden drei Themenfelder identifiziert. Ein erstes Themenfeld sucht nach verborgenen Zusammenhängen zwischen der Entdeckung von whale songs in der Marineforschung des Kalten Krieges mit ihrer publikumswirksamen Verbreitung (National Geographic, Science), der Aufnahme in die Popkultur, der Weltraumforschung (die Gesänge wurden in die Goldene Schallplatte der beiden Voyager-Raumsonden übernommen) und der Akzeptanz von Artenschutzprogrammen für Meeressäuger. Von Relevanz sind die konkrete Klanglichkeit (hier: hydrophone Aufnahmen, die in Form einer LP herausgebracht werden) und Kategorisierungen (hier: als songs, nicht einfach Tierlaute). Die whale songs sind heute über streaming-Plattformen abrufbar.
Ein weiterer Strang der Vorlesung thematisiert die Herausforderungen, die sich für die Musikwissenschaft und Musiktheorie ergeben: sind die im Fach genutzten Konzepte von «Musik», «Kultur», «Intelligenz» und «Kommunikation» menschlich exklusiv – oder sollten wir die Perspektive ändern, um non-linguistic creatures wie Wale (Cetacea) als kulturfähige deep thinkers (Janet Mann) aufnehmen? Wo verläuft die Grenze von Signal und Musik? Wer definiert die Maßstäbe für eine klangbasierte inter-species-Kommunikation?
In einem dritten Themenfeld diskutiert die Vorlesung popkulturelle und futuristische Positionen einer alternativen Sound-Mythologie des Meeres, die u.a. im Diskurs über phantom islands und archipelagisches Denken und in der aqua-topischen elektronischen Musik von Drexciya greifbar werden.
Die Vorlesung steht im Kontext eines inter- und transdisziplinären Ausstellungsprojekts zum Thema „Wasser“, das am Humboldt-Labor und dem Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik unserer Universität für das Humboldt Forum (2025) entwickelt werden. |