Kommentar |
Die Geschichte des Zaren Boris Godunov und seiner Konfrontation mit dem Herausforderer Pseudo-Dmitrij, der sich für einen wie durch ein Wunder vom Tod geretteten Sohn Ivan IV. ausgab, wurde dank des gleichnamigen Dramas von A. Puškin (1825/1831) und der Oper von M. Musorgskij (1869/1874) zu einem der Schlüsselnarrative für die russische Kulturgeschichte und die nationale Identität. Seinerzeit übernahm Puškin das Sujet aus N. Karamzins monumentaler Geschichte des russischen Staates (1818-1826) und schuf daraus ein nationales Drama, in dem das Schicksal eines vom ungerechten Herrscher unterdrückten und leidenden russischen Volk erzählt wird. Musorgskij entwickelte den Text von Puškin kreativ weiter. Insbesondere die Szene des Volksaufstands im Wald bei Kromy machte die Oper berühmt. Später hieß es, Musorgskij hätte in Boris Godunov prophetisch die Oktoberrevolution (1917) vorausgesagt. Das Seminar wird sich den Originaltexten von Karamzin, Puškin und Musorgskij im Einzelnen widmen und deren dramaturgischen Aufbau studieren, aber auch nach den Transformationen der Deutung des Stoffs fragen. Wer wird als ‚handelnder‘ Subjekt der Geschichte dargestellt – der Zar, sein Herausforderer, oder das Volk? Wie wird das Spannungsverhältnis zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Zeugenschaft und schriftlicher Überlieferung reflektiert und die Möglichkeit des Einflusses eines Individuums auf historische Prozesse gegenüber der Vorstellung von der ‚Schicksalshaftigkeit‘ eines Ereignisses aufgewertet? Was macht diese Texte zu einer Grundlage für die Entwicklung von nationalen Mythen? Zum Ende des Semesters soll ein Ausblick auf die Neuinterpretationen der Figur von Boris Godunov in zeitgenössischen Produktionen erfolgen. Primär- und Sekundärliteratur wird auf Deutsch und Englisch gelesen. Russischkenntnisse sind von Vorteil, aber nicht notwendig für die Teilnahme. |