Achtsamkeit ohne Spiritualität?
„Westliche“ Zugänge zu „fernöstlichen“ Praktiken der Bewusstseinsbildung
Spirituelle Praktiken, die wir aufs Engste mit Religion und Philosophie des „Ostens“ verbinden, scheinen uns über unsere Leiblichkeit einen Zugang zum Bewusstsein eröffnen zu können, der in der westlichen, durch das Christentum geprägten Tradition kaum zu finden ist.
Meditation, Yoga sowie die Bewegungs- und Kampfkünste Indiens, Chinas und Japans gehören inzwischen auch im Westen zu den etablierten Methoden der Achtsamkeits-, Entspannungs- und Gesundheitsbildung. Teilweise zu Kassenschlagern der Fitness-Industrie geworden, sind sie in einer „Light-Version“ der „Bewusstseins-Dimension“ weitgehend entkleidet. Stark traditionell geprägte Formen wiederum scheinen Kreativität wenig Freiraum zur Entfaltung zu geben. Viele nehmen solche Methoden auch in Anspruch, um Linderung ihrer medizinischen Probleme zu erfahren – ob so jedoch Heilung in einem umfassenden Sinne zu erlangen ist?
Achtsamkeit ist ein wesentlicher Bestandteil buddhistischer Lehren und Mediationspraktiken. Im Westen ist dieser Zugang in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts populär geworden, als die moderne empirische Psychologie in einer „Beschleunigungsgesellschaft“ an ihre Grenzen gestoßen ist, indem ein positivistisches Wissenschaftsdogma auf die Herausforderung traf, dem ganzen Menschen in der Not seiner Entfremdung in der modernen Welt gerecht zu werden. Dies mündete ab der Jahrhundertwende in einem regelrechten „Achtsamkeits-Hype“.
Um den Herausforderungen des gegenwärtigen Menschen gerecht zu werden, ist ein Rückgang auf die philosophischen Wurzeln der Wissenschaften, insbesondere der Psychologie dringend geboten.
Im Seminar wollen wir das Feld ausgehend von folgenden provokativen Fragen aufrollen (im Laufe des Seminars werden sich gewiss noch weitere herauskristallisieren):
- Was bedeutet es, bewusstseinsbildende Praktiken ihrem religiösen und kulturellen Kontext zu „entreißen“ und für das Anliegen der psycho-sozialen Gesundheitsförderung „herunterzubrechen“?
- Welche Menschenbilder liegen den verschiedenen Zugangangsweisen zugrunde?
- Trägt die moderne (empirische) Wissenschaft womöglich nicht gerade entscheidend zu den Problemen bei, die sie mit denselben Mitteln zu überwinden sucht, durch die diese erst entstanden sind?
- Achtsamkeitsfokus: Aufgehen im leibhaften Sein oder Untergang der spontanen Lebendigkeit?
- Bedeutet Achtsamkeit Rückzug aus der Welt ins eigene Seelenheil oder erhöht sie gar die Handlungsfähigkeit durch Klarheit des Geistes?
- Entfremdungszusammenhang: Aktivierung der Veränderungspotentiale für eine bessere Gesellschaft oder Eintauchen in ein jenseitiges Kontinuum?
- Erfolgt an den Grenzen der modernen Psychologie ein Abdriften in die Esoterik durch Verlust philosophischer Fundierung?
Wir wollen solchen Fragen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Spiritualität praxeologisch nachgehen; besonders, wie wir Einsichten aus diesen Methoden für eine „Bewusstseinserweiterung“ in Wissenschaft und Gesellschaft fruchtbar machen können. Die intellektuelle Durchdringung soll aber nicht im leibfernen akademischen Feld ansetzen. Vielmehr wollen wir das Thema auch von Zugängen der Praktizierenden aus entfalten. Dazu sind neben den Studierenden der philosophischen, psychologischen, gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Fächer mit explizit wissenschaftlichem Interesse an der Themenstellung besonders auch all jene Studierenden und Lehrenden der Humboldt-Universität eingeladen, die selbst eine solche Methode praktizieren bzw. sich für einen vertieften Zugang zu Leiblichkeit und Bewusstsein interessieren.
Studierende und Lehrende, die sich zu diesem Themenbereich im interdisziplinären Kontext einbringen möchten, aber keinen qualifizierten Schein anstreben, können sich auch ohne offizielle Zulassung direkt beim Seminarleiter (kalinowski@gmx.de) mit kurzer Beschreibung ihres Zugangs zum Thema bzw. Ihres Interessensbereichs bewerben.
Online-Seminar wöchentlich montags 10-12, Erster Termin: Semesterbeginn
Literatur zur Einführung ins Themenfeld:
Tich Nhat Hanh: Worte der Achtsamkeit (2001) & Das Wunder der Achtsamkeit (2002)
Henepola Gunaratana: Die Praxis der Achtsamkeit. Eine Einführung in die Vipassana-Meditation
Jacob Schmidt (2020) Achtsamkeit als kulturelle Praxis. Zu den Selbst-Welt-Modellen eines populären Phänomens. transcript-verlag.de/media/pdf/9c/31/2e/oa978383945230146rO5sSewlAH4.pdf (Kostenloser Download) |