Kommentar |
Wenn die Geschichte in jüngster Vergangenheit zu Ende gegangen ist (posthistoire), dann ließe die Gegenwart sich nur mehr bestimmen als ein Zeitraum nach dem Ende der Geschichte. Wie aber sieht ‚Zeitgenossenschaft‘ (Agamben) unter diesen Bedingungen aus? Sollte es stimmen, dass Gegenwart nur noch in Begriffen der ‚Krise‘ zu beschreiben ist, dann mag das bedeuten, dass der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang, in den wir eingelassen sind, an Stabilität einbüßt und aus sich selbst heraus in sich zusammenzubrechen (zu kollabieren) droht: und das wäre wohl Grund für einen gewissen ‚Alarmismus‘ (Röggla). Es ginge dann nicht (mehr) darum, mit einem mehr oder weniger akzidentell induzierten katastrophischen Ereignis in der Zukunft zu rechnen (also die „Zukunft als Katastrophe“ zu begreifen: Horn), sondern anzuerkennen, dass das ‚menschenverursachte‘ Prekärwerden von Lebensräumen (Anthropozän) vielerorts bereits eingesetzt hat und sich auf kontinuierliche, umfassende und oft unspektakuläre Weise vollzieht, und mithin an anderer Stelle längst beobachtbar ist, was vielleicht auch uns künftig erwartet – wenn aktuelle Entwicklungstendenzen (etwa ökologische) sich fortsetzen. Was sich da auf diese Weise abzeichnet, wird nun sichtbar vor allem da, wo Fluchtlinien der Gegenwart verlängert werden und in einen Imaginationsraum münden, in dem aktuelle (und potentielle) Erfahrungen sich auf anschauliche Weise verdichten lassen: Die (literarische) Konstruktion ‚möglicher Welten‘ aber leistet genau dies und verspricht, so nicht nur die gesellschaftliche Wirklichkeit unserer Gegenwart begreifbar werden zu lassen, sondern auch eine ‚Szenarisierung‘ (Citton) von ‚Situationen‘ ins Werk zu setzen, die nachvollziehbar macht, wie sich Lebensformen „in den Ruinen des Kapitalismus“ (Lowenhaupt Tsing 2019) erfolgreich an die veränderten Umweltbedingungen anpassen können.
Das hier skizzierte Problem wird in Frankreich heute theoretisch bedacht unter dem Stichwort ‚Kollapsologie‘, das einen theoretisch wie ideologisch sehr heterogenen Diskurs aufruft (vgl. Citton/Rasmi 2019). Konkrete Antworten auf die hier gestellten Fragen aber lassen sich in der Literatur finden: die Weltbilder modelliert, indem sie vom Leben in Räumen erzählt, die nie Geschichte (Dath: ‚Niegeschichte‘) geschrieben haben oder schreiben werden. Wir wollen daher im Seminar die ‚Kollapsologie‘ kritisch befragen, indem wir sie mit literarischen Texten (und Bildgeschichten) – von Virginie Despentes (A), Michel Houellebecq (g), Louis-Sébastien Mercier (A), Frederik Peeters (BD: A), Jean-Christophe Rufin (g), Antoinette Rychner (g), Sansal Boualem (g), Jules Verne (A) und Antoine Volodine (g) – konfrontieren: die wir ganz (g) oder in Ausschnitten (A) lesen und problematisieren.
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