Kommentar |
Die ältere Forschung schreibt dem Mittelalter zwei Typen von Visionen zu: Jenseitsreisen und kontemplative Visionen. Im Bemühen, den jeweiligen Grad und die Art der Entrückung, sowie die (Ander-) Räumlichkeit dieser Visionen zu klassifizieren, ist aus dem Blick geraten, dass die sog. kontemplativen Visionen als Texte, die in Frauenklöstern entstehen, vielfach in die Tagzeiten- und Messliturgie eingebunden sind. Texte, Gesänge und Praktiken der Liturgie stellen dabei eine komplexe zeitliche, rituell-performative und nicht zuletzt semantische Matrix dar, mit denen die Visionen in Interaktion stehen. Zu ästhetischen Spiegelungs- und Verdopplungseffekten kommt es, wenn die liturgischen Visionen ihrerseits von himmlischen Liturgien berichten. Im Zentrum des Seminars stehen Texte, die mittelalterlichen (mystischen) Visionärinnen zugeschrieben werden (Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau, Mechthild von Magdeburg, Mechthild von Hackeborn, Hadewijch, Margaretha Ebner) sowie Berichte zu solchen religiösen Frauen (Cäsarius von Heisterbach, Dietrich von Apolda). Zur Diskussion stehen die spezifischen theologischen und ästhetischen Leistungen liturgischer Visionen sowie die Frage, ob sich diese im komplexen literarischen Feld der Viten- und Offenbarungsliteratur bzw. der sog. ‚Frauenmystik‘ als distinkter Texttyp ausprägen und ob sie für spezifische geistliche Milieus charakteristisch sind. |
Literatur |
Zur ersten Orientierung empfehle ich einen Blick in die ältere Studie von Peter Dinzelbacher: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23); sowie für einen liturgieorientierten Zugriff Christoph Benke: Mystik und Liturgie. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 125 (2003), S. 444–473. Einen instruktiven Beispielfall diskutiert Felix Heinzer: Imaginierte Passion. Vision im Spannungsfeld zwischen liturgischer Matrix und religiöser Erfahrung bei Elisabeth von Schönau. In: Nova de veteribus. Mittel- und neulateinische Studien für Paul Gerhard Schmidt. Hg. von Andreas Bihrer und Elisabeth Stein, München/Leipzig 2004, S. 463-476. |