Kommentar |
Die Psychologie ist in ihren sich wandelnden Bestimmungen im 19. Jahrhundert zugleich Gegenstand und Methode der Literatur, wie auch umgekehrt die Literatur Gegenstand und ihre Verfahren Methoden der Psychologie sind. Psychische Krankheiten wie die Hysterie oder die Neurasthenie, aber auch einzelne Phänomene wie Traum und Halluzination werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu zentralen literarischen Themen, Autoren definieren ihre Texte explizit als psychophysiologische Untersuchungen. An den Romanen Jules und Edmond de Goncourts, Gustave Flauberts, Emile Zolas, Joris-Karl Huysmans‘ und anderer zeigt sich, wie Vokabular und Verfahren der Psychophysiologie in großem Umfang Eingang in die Literatur halten. Diese Bewegung verläuft nicht einseitig: Narrative Verfahren, wie sie Roman und Erzählung seit der Fokussierung auf das „Innere“ der Helden entwirft, schreiben mit an den psychophysiologischen Fallgeschichten der Medizin. Desgleichen reklamiert, wie die Literatur, auch die Literaturkritik psychologische und physiologische Verfahren. Mit Hippolyte Taine wird der literarische Text zum „fait“, zum positiven Faktum, über das Zugriffe auf die „Seele“ des Autors möglich werden. Und Taine gilt nicht nur als Begründer einer „wissenschaftlichen“ Literaturkritik, sondern zugleich als einer der Gründungsväter der neuen, von der Philosophie unabhängigen Psychologie, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erstmals als selbstständige Disziplin an den Universitäten etabliert.
Die Vorlesung zeichnet die vielfältigen Verbindungen von Literatur und Psychologie im 19. Jahrhundert nach und fragt, wie die Literatur am Wissen von der Seele mitschreibt. |