Kommentar |
Lukrez’ († um 55 v. Chr.) Lehrgedicht De rerum natura („Über das Wesen der Dinge/Atome“) ist ein in vielen Hinsichten einzigartiges Werk: Als umfassendste Wissensquelle für Epikureismus und Atomismus (in Rom) ist es von herausragender philosophischer Bedeutung. Sein Stoff ist es aber auch, der dem Gedicht seine turbulente Überlieferungsgeschichte beschert hat: „The line between this work and modernity is not direct (…). There were innumerable forgettings, disappearances, recoveries, dismissals, distortions, challenges, transformations, and renewed forgettings“ (Greenblatt 2012, S. 6f.). Kein Leben nach dem Tod? Keine (ernstzunehmenden) Götter? Keine politische Betätigung des Individuums? Eine Welt, die sich selbst schöpft? Kein Wunder, dass es Lukrez nicht leicht hatte in der (teilweise) polytheistischen Antike und vor allem nicht in der zunehmend monotheistischen europäischen Spätantike und dem Mittelalter. Der Sachverhalt, dass Lukrez’ Werk tatsächlich kurz vor dem physischen Verschwinden stand (eigentlich ganz in seinem Sinne), stößt zu einer Reflexion über die vermeintlich kontingente Überlieferungslage und den Überlieferungszustand antiken Schrifttums an. Dagegen steht die Frage, warum es Lukrez am Ende doch zu uns geschafft hat. Und diese lässt sich nicht nur mit der für den Gang der Welt immer bestechlicher werdenden physikalischen Theorie des Werkes, sondern vor allem auch mit seinem literarisch-poetischen Status beantworten. So soll auch die Erschließung des Lehrgedichts als Gedicht und die eingehende Diskussion besonders wirkmächtiger Passagen für die europäischen Literaturen im Vordergrund stehen. Wo es sich anbietet – und je nach Interesse der Besucherinnen und Besucher des Kurses –, sollen spätere Lukrez-Lektüren (z.B. Montaigne, Giordano Bruno, Hans Blumenberg, Stephen Greenblatt) herangezogen werden, nicht zuletzt, um weiter der Frage nachzugehen, wodurch Lukrez bestach und was ihn und sein Werk – unumstritten eines der originellsten Stücke, die die lateinische Literatur zu bieten hat – immer noch am Leben hält.
Zusätzlich zur regelmäßigen und aktiven Teilnahme wird von den Besucherinnen und Besuchern des Seminars das Verfertigen wöchentlicher, kleiner (!) Arbeitsaufträge – zumeist als Lektürepensum – erwartet.
Erhältliche Ausgaben: Titus Lucretius Carus. De rerum natura. Welt aus Atomen. Lateinisch/Deutsch. [Im Versmaß] Übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Karl Büchner, Stuttgart 2012 (Reclam, 16,80€, zuerst 1973). Oder: Lukrez. Über die Natur der Dinge. In deutsche Prosa übertragen und kommentiert von Klaus Binder. Mit einer Einführung von Stephen Greenblatt, München 2017 (dtv, 16,90€, zuerst 2014). Als Appetizer: Stephen Greenblatt, The Swerve. How the World Became Modern, New York/London 2012. |