Kommentar |
Das Zarenreich war in vielerlei Hinsicht durch seine Grenzen und Grenzerfahrungen geprägt. Von der Zeit Iwans des Schrecklichen bis ins frühe 20. Jahrhundert waren Moskau und St. Petersburg darauf bedacht, die eigenen Grenzen zu erweitern und zu sichern. Dies war ein höchst dynamischer Prozess, in dem Grenzregionen ständigem Wandel unterworfen waren. Innerhalb weniger Jahre und Jahrzehnte konnte offenes, unbefriedetes Grenzland zu imperialem Kernland werden. Dieser Prozess schloss sich wandelnde Vorstellungen von Eliten ebenso mit ein wie politische, sozioökonomische und kulturelle Veränderungen vor Ort. Zugleich nahm das Imperium eine immer größer werdende Vielfalt von Religionen, nationalen Gruppen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebenswirklichkeiten in sich auf. In dem Dilemma, diese Vielfalt zu respektieren und zu fördern und zugleich die Ausübung von Herrschaft zu rationalisieren und zu vereinheitlichen, wurden dem Zentrum auch die Grenzen der eigenen Handlungsfähigkeit vor Augen geführt.
Diese Vorlesung bietet einen Überblick über Kontinuitäten und Brüche imperialer Herrschaft im Zarenreich über gut dreieinhalb Jahrhunderte. Sie untersucht nicht nur die sich verschiebenden äußeren Grenzen des Reiches, sondern nimmt auch die Verschiedenartigkeit innerer Grenzen in den Blick, geographischer und politischer wie kultureller und sozialer. Grenzregionen wie Mittelasien und der Kaukasus, aber auch die Wolgaregion, das Schwarzmeergebiet und die Westprovinzen werden immer wieder im Mittelpunkt stehen. Der Perspektive des Zentrums werden dabei stets die Erfahrungen der Menschen in den Grenzregionen gegenübergestellt werden, ob im Erleben von Eroberung und Herrschaftsdurchsetzung, in der Siedlungspolitik oder im Zusammenspiel unterschiedlicher Rechtsordnungen. Im Ganzen wird die Geschichte so zugleich „von oben“ und „von unten“ erzählt. |
Literatur |
Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall (München: Beck, 1992).
Stefan B. Kirmse, The Lawful Empire. Legal Change and Cultural Diversity in Late Tsarist Russia (Cambridge: Cambridge University Press, 2019). |