Kommentar |
Martin Luthers berühmter Thesenanschlag im Jahr 1517 fiel in eine turbulente Zeit der Weltuntergangserwartung, die eng mit der Expansion des islamisch geprägten Osmanischen Reiches auf dem europäischen Kontinent verknüpft war. Dementsprechend nahmen die „Türken“ in der heilsgeschichtlichen Deutung der zeitgenössischen Ereignisse durch Luther und andere Reformatoren eine zentrale Rolle ein. Militärische Ereignisse wie die osmanische Eroberung weiter Teile Ungarns nach der Schlacht von Mohaćs 1526 und die erste Belagerung Wiens 1529 befeuerten die Wahrnehmung einer „Türkengefahr“ im Alten Reich.
Doch gleichzeitig entwickelten zahlreiche Zeitgenossen eine große Faszination für diesen religiösen und kulturellen „Anderen“. Schon 1530 – also ein Jahr nach der Belagerung Wiens – hatte Luther das Fehlen einer guten Koranübersetzung beklagt, aus welcher er mehr über „die Religion und sytten der Mahometischen Türcken“ hätte erfahren können. Als die ersehnte Übersetzung schließlich 13 Jahre später in Basel in den Druck ging, enthielt sie ein Vorwort von niemand geringerem als Luthers Weggefährten Philipp Melanchthon.
In diesem Kurs werden wir anhand der einschlägigen Forschungsliteratur (auf Deutsch und Englisch) sowie ausgewählter deutschsprachiger Quellen das ambivalente Verhältnis von Vertretern der protestantischen Bewegung zum Osmanischen Reich während des 16. Jahrhunderts beleuchten. Dabei werden wir solchen Fragen nachgehen wie: Welche Rolle spielten die Osmanen in den konfessionellen Auseinandersetzungen dieser Zeit? Wie formten diese Auseinandersetzungen die protestantischen Sichtweisen auf die „Türken“? Inwiefern wurden Ausbreitung und Konsolidierung des Protestantismus im Alten Reich und Europa von der osmanischen Präsenz beeinflusst? Und wie erlangten christliche Europäer zu dieser Zeit überhaupt Wissen über den Islam und das Osmanische Reich? Das Bachelorseminar ermöglicht es Ihnen, Ihr Verständnis eines Schlüsselmoments der europäischen Frühen Neuzeit zu vertiefen und das in vergangenen Semestern erworbene Handwerkszeug der historischen Forschung zu schärfen. |
Literatur |
Felix Konrad, Von der ‘Türkengefahr’ zu Exotismus und Orientalismus. Der Islam als Antithese Europas (1453–1914)?, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz, 3.12.2010, http://www.ieg-ego.eu/konradf-2010-de.
Almut Höfert, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600 (=Campus Historische Studien, Bd. 33), Frankfurt und New York, 2003.
Thomas Kaufmann, „Türckenbüchlein“. Zur christlichen Wahrnehmung „türkischer Religion“ in Spätmittelalter und Reformation (=Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 97), Göttingen, 2008.
Adam S. Francisco, Martin Luther and Islam. A Study in Sixteenth-Century Polemics and Apologetics (=History of Christian-Muslim relations, Bd. 8), Leiden u.a., 2007.
Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München, 1974. |