Als der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in den Jahren zwischen 1999 und 2003 seinen Kanon der deutschen Literatur zusammenstellte und in vier schwergewichtigen Papierbuch-Paketen im Insel-Verlag präsentierte, waren die Reaktionen in kultureller Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Welt geteilt. Doch trotz kritischer Fragen nach Auswahlkriterien und Ergebnissen des prominenten Experten ist die Notwendigkeit einer permanenten Selbstvergewisserung über bleibende Texte und dauerhaft rezipierte Werke unbestritten: Gesellschaften und Generationen müssen sich den Reichtum der kulturellen Überlieferung ebenso aneignen wie kritische Umgangsformen mit den in ihnen bewahrten Problemstellungen und Lösungsangeboten. Da aber die Fülle ästhetischer Produktionen tendenziell unüberschaubar ist, sind Auswahlprozesse unumgänglich. Dabei bedarf es nicht nur beständiger Reflexionen über die Grundlagen von Wertungen (die mit der Integration von bestimmten Werken immer auch andere Werke ignorieren oder ausschließen), sondern gleichfalls umfassender Kenntnisse über die Voraussetzungen und Konsequenzen jener Texte, die als ‚kanonisch’ bezeichnet werden und doch keineswegs singuläre und voraussetzungslose ‚Gipfel’ einer literarischen Entwicklung darstellen. – Eine Variante dieser Reflexion soll in der Vorlesung erprobt werden. Geplant sind nicht nur kritische Rekonstruktionen von Kanonisierungsprozessen, sondern auch umfassend kontextualisierte Lektüren exemplarischer Werke, die aufgrund ihrer Anschlüsse an Traditionen und innovativer Einsätze auf dauerhafte Rezeption rechnen können. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Wirkungsgeschichten kanonisierter Texten, die in vielfältiger Weise auf gesellschaftliche Verhältnisse und das Ensemble ihrer Künste wirkten sowie von nachfolgenden Generationen angeeignet (oder auch abgelehnt) wurden.Ein materiales Ergebnis der VL wird eine Kanon-Box sein: Diese digitale Material- und Werkzeugsammlung (auf SSD, mit USB-Anschlüssen und Micro-Controller) enthält neben einer umfangreichen Sammlung von Kanon-Vorschlägen aus dem 19. und 20. Jahrhundert zur Demonstration von Kanonisierungsprozessen sämtliche in der Vorlesung behandelte Werke in elektronischer Form (um sowohl Lektüren und Volltextrecherchen an digitalen Endgeräten als auch komplexere Operationen mit DH-Werkzeugen zu ermöglichen). Zudem stellt die Kanon-Box umfassende Kontextmaterialien zu den Werken bereit, um sowohl ihre ästhetischen und gesellschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen als auch ihre kulturellen und sozialen Folgen zu dokumentieren. – Es lohnt sich also: Denn irgendwann im Leben müssen kanonische Werke sowie zur Kenntnis genommen werden. Sämtliche Texte und Kontextmaterialien auch auf moodle.