Kommentar |
Die Bukowina ist eine mehrsprachige, kulturell vielfältige historische Region in Südosteuropa, die aufgrund ihrer geographischen Lage mehrfach zum Spielball geopolitischer Verschiebungen wurde. Heute gehört ihre nördliche Hälfte zur Ukraine, ihre südliche Hälfte zu Rumänien. Eine wirtschaftliche, gesellschaftspolitische und kulturelle Blüte erlebte die Region zwischen 1775 und 1918 während ihrer Zugehörigkeit zur Habsburgermonarchie. Migrationsbewegungen und Bevölkerungspolitik begünstigten die vielkulturelle Prägung des Landes und die Herausbildung supranationaler bzw. kosmopolitischer Identitätskonzepte. Eine wichtige Rolle dabei spielten das habsburgische Bildungswesen und die deutsche Sprache. Die Bukowina und ihre Hauptstadt Czernowitz entwickelten sich zu einem Raum verdichteten literarischen Schaffens, der durch die Nationalismen des 20. Jahrhunderts zerstört wurde und nach dem 2. Weltkrieg hinter dem Eisernen Vorhang verschwand. Von Überlebenden, Emigranten und Feuilleton wurden sie als Erinnerungsorte in die deutschsprachige literarische Ideenzirkulation eingespeist. Dennoch sind nur wenige Namen wie Paul Celan, Rose Ausländer oder Georg Drozdowski einem breiteren Leserkreis bekannt. Vielfach wird der vielschichtige literarische Raum auf Plattitüden wie „Oase friedlichen Zusammenlebens“, „phantastische Mischung von Ethnien, Religionen und Sprachen“ oder „Modell eines vereinten Europas“ reduziert. Im Seminar soll eine breite Auswahl von Texten kritisch gelesen und in ihrem jeweiligen soziohistorischen und diskursiven Kontext analysiert werden. Dabei sollen nicht nur Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, die unter dem Label „deutschsprachige Literatur aus der Bukowina“ rezipiert werden. Ins Blickfeld sollen auch solche Texte rücken, die in anderen Nationalliteraturen, insbesondere der Ukraine, kanonisiert sind. Kenntnisse des Ukrainischen, Rumänischen, Jiddischen oder Hebräischen sind von Vorteil aber keine Voraussetzung für die Teilnahme.
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