Kommentar |
Im geschichtlichen Kontext des späten 19. Jahrhunderts, der von zunehmender Skepsis und Entfremdung gegenüber Christentum und Kirche geprägt ist, zielt Albrecht Ritschls „Unterricht in der christlichen Religion“ (1875) darauf ab, das Wesen der christlichen Religion als Ganzes und in neuer Weise vor Augen zu führen. Laut Ritschl stellen mittelalterliche und reformatorische Theologie nicht ausreichend heraus, was die Eigentümlichkeit und, vor allem im modernen Kontext, das besondere Überzeugungspotenzial des Christentums ausmache, nämlich seinen wesentlich ethischen Charakter. Laut Ritschl lässt die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, aus welcher der Geist der christlichen Gemeinde (auch gegenwärtig noch) entspringt, konkret und praktisch auf etwas vertrauen, was sonst tendenziell als bloß abstrakte Idee bezweifelt werden muss: ein „Reich Gottes“, eine Gemeinschaftsform, die nicht durch äußerlich-zufällige Gründe (wie Geschlecht, Nationalität, gesellschaftliche Stellung), sondern durch das unbedingte, „überweltliche“ Motiv der Liebe zu Gott und dem Nächsten zusammengehalten wird. Ritschls „Unterricht“ bewegt sich philosophisch im Spannungsfeld zwischen Kant und Hegel, theologisch zwischen der Theologie Friedrich Schleiermachers und Karl Barths, den er maßgeblich beeinflusst hat – nicht zuletzt wohl daraus erklärt sich seine reiche Wirkungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert sowie bis heute. Im Seminar werden wir Gelegenheit haben, diesen knapp gehaltenen Gesamtentwurf detailliert zu studieren und kritisch zu diskutieren. |
Literatur |
Christine Axt-Piscalar: "Einleitung der Herausgeberin", in A. Ritschl: Unterricht in der christlichen Religion, Tübingen 2002, IX bis XL und Ulrich Barth: "Das gebrochene Verhältnis zur Reformation. Beobachtungen zum Protestantismusverständnis Albrecht Ritschls", in: M. Berger, M. Murrmann-Kahl (Hrsg.): Transformationsprozesse des Protestantismus. Zur Selbstreflexion einer christlichen Konfession an der Jahrtausendwende. Falk Wagner (1939–1998) zu Ehren. Gütersloh 1999, S. 80–99. |