Kommentar |
Das SE will in die Germanistik zwischen Reichsgründung und Nationalsozialismus einführen, eine Zeit, in der das Fach tiefgreifende Transformationen erfuhr, engagiert über seine methodische Ausrichtung stritt – und an deren Ende es nachhaltig seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzte. Den Ausgangspunkt des Seminars bildet eine gravierende innerfachliche Differenzierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: die Etablierung der neueren deutschen Literatur als würdigem Gegenstand für das universitäre Fach, das sich zuvor meist auf die alt- und mittelhochdeutsche Literatur konzentriert hatte. Diese Entwicklung wurde massiv durch die Etablierung einer Goethe-Philologie befördert, etwa durch Michael Bernays oder Wilhelm Scherer. Mit dieser Neuerung war eine theoretische und methodische Ausdifferenzierung verbunden. Neben die textkritische und editionsphilologische Arbeit traten u.a. Biographik, Literaturgeschichte, hermeneutische und psychologische Ansätze, Adaptionen naturwissenschaftlicher Theorien oder umgekehrt Bestrebungen, die Eigenheit von ‚Geisteswissenschaften‘ gegenüber Naturwissenschaften theoretisch zu begründen. Einen zweiten Schwerpunkt des Seminars bilden die neuen Fronten innerhalb Fachs, die um 1920 entstanden. Im Namen eines ‚geistesgeschichtlichen‘ Programms warben Germanisten wie Rudolf Unger oder Friedrich Gundolf dafür, sich nicht auf philologische „Kleinkrämerei“ zu beschränken, sondern größere kulturelle oder geistige Zusammenhänge darzustellen. Unterschiedliche Konzepte von ‚Geistesgeschichte‘ brachen mit konventionellen Darstellungsformen, suchten die Nähe zur Gegenwartsliteratur und unterliefen teilweise gezielt die Grenze zwischen Philologie und Dichtung. Von Zeitgenossen und Nachfolgern wurde ihren Vertretern deshalb mitunter Dilettantismus und die Tendenz zur nationalideologischen Vereinnahmung vorgeworfen. Drittens wird das Seminar sich auch mit der Rolle des Faches im Nationalsozialismus beschäftigen und damit dem Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen Entwicklungen und politischen Zäsuren nachgehen. |